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AutorenbildErwin Peter Kandel

Komasaufen




An der Front der Kampftrinker Quelle: Wolfgang Bauer – FOCUS

Saufen – Jugendliche in Deutschland tun es immer früher und immer hochprozentiger. Nachdem dem Tod eines 16-Jährigen in Berlin fordern Politiker Konsequenzen. Nur welche? FOCUS-Reporter Wolfgang Bauer besuchte sieben Nächte die Front der Kampftrinker in Stuttgart.

Die Flasche Wodka kreist bereits in der Warteschlange vor der Musikkneipe „Pflaumenbaum“ im Stuttgarter Westen. Mädchen kichern, Jungs grinsen, einige von ihnen lallen schon um 19 Uhr. „Es sind doch Ferien“, sagen sie zu mir. „Wir wollen doch nur Spaß.“ Die 16-jährige Anja, müdes Gesicht, dunkle Augenringe, ist schon seit Tagen auf der Piste, die Anlässe zum Saufen wechseln einander ab – Geburtstage, Gartenpartys, Konzerte. „Wir geben richtig Gas“, strahlt sie mit ihren drei Freundinnen. Heute wollen sie kübeln, weil das Kübeln am „Flatrate“-Tag im „Pflaumenbaum“ so günstig ist. Zehn Euro für Mädels, zwölfe für die Jungs, das kann sich auch ein noch so schmaler Schülergeldbeutel leisten. „Früher war der Donnerstag tot“, freut sich Betreiber Timo Bemsel. „Jetzt ist es der Wahnsinn.“

Randale in der Notaufnahme Der Wahnsinn ist es auch für die Notaufnahme in Stuttgart, die in den letzten Jahren über eine drastische Zunahme von eingelieferten Jugendlichen klagt. Die Schwestern und Ärzte des Marienhospitals sind oft überfordert mit den besoffenen Kids, die im Behandlungszimmer randalieren, in die Blumentöpfe des Wartebereiches oder in Bücherregale pinkeln. Einige greifen Sanitäter an, es kommt immer häufiger zu Handgemengen in der Notaufnahme. „Näh mich endlich zu!“ raunzt ein 23-Jähriger die junge Ärztin an, die die Schnittwunde an seinem Kopf behandelt. Im Suff hat er sich im Irish Pub an einem Bierglas die Stirn aufgeschnitten. „Ich will hier raus und wieder saufen!“ Im Zimmer nebenan drückt ein Betrunkener einen anderen auf das Behandlungsbett. Der untere blutet aus Schnittwunden, will aber partout nicht bleiben. Stumm und erbarmungslos kämpfen die beiden ihren Kampf, bis die Schwestern die Polizei rufen, die dann mit Blaulicht kommt.

Trümmerhaufen Jugendschutzgesetz Sieben Tage habe ich es für diese Reportage in der Nase: Eine Partynacht in Deutschland riecht nach Pisse, Erbrochenem und Kot. Das Nachtschwärmen nach ein Uhr morgens ist in den meisten Städten kein Vergnügen. Das Jugendschutzgesetz ist ein Trümmerhaufen aus Paragrafen. Viele Quellen sprudeln für Kinder und Jugendliche. Wer es mit Milchbubengesicht nicht in die Kneipen und Diskotheken schafft, lässt sich eine Ausnahmegenehmigung der Eltern von Freunden fälschen. Die nötigen Vordrucke stellen die meisten Diskos auf ihren Internetseiten bereit. Andere kaufen bei Tankstellen ein. In Stuttgarts Innenstadt machen die mehr Umsatz mit alkoholischen Getränken als mit Benzin. Und wer vom Tankwart tatsächlich einmal aus Altersgründen weggeschickt wird, schickt eben einen über 18-Jährigen vor. Überall treffe ich um ein Uhr nachts in der Fußgängerzone betrunkene Jugendliche, überhaupt ist um diese Zeit keiner mehr nüchtern – außer der Polizei. Die rast von einer Schlägerei zwischen Besoffenen zur nächsten.

Immer weniger trinken immer mehr Aber stopp – Generation Suff? Die gibt es nicht. Eine Erfindung des Boulevards. Nie war Deutschlands Nachwuchs nüchterner. In den vergangenen 30 Jahren ist der Anteil trinkender Jugendlicher immer kleiner geworden. Während in den 70er-Jahren die Hälfte der zwölf- bis 17-Jährigen mindestens einmal in der Woche trank, ist es heute nur noch ein Fünftel. Die Umsätze von Brauereien und Brennereien gehen stetig zurück, die Diskotheken kämpfen ums Überleben. Doch mit immer neuen Tricks suchen sie nach Auswegen aus der Misere, erst mit den Alkopos, die zum ersten Mal gezielt besonders junge Kunden anvisierten, jetzt mit Flatrates und Discount-Partys. Sie sind Trendsetter einer schlimmen Entwicklung. Zwar trinken immer weniger Jugendliche. Die es aber tun, tun es immer früher und immer heftiger. Für den Organismus der Kids, deren Leber den Alk nicht richtig abbauen kann, deren Gehirn noch empfindlicher auf ihn reagiert, eine Katastrophe. Vor kurzen ist in Berlin ein 16-Jähriger an über vier Promille gestorben. Die Bundesrepublik vergiftet ihre Kinder.

Der findige Zapfer weiß sich zu helfen In Timo Bemsels „Pflaumenbaum“ ist der Steinboden bald geflutet, fingertief steht der Wodka hier. Da alles umsonst ist, gibt niemand acht, nichts zu verschütten. „Sollen die ruhig die Flatrate-Partys verbieten“, sagt Bemsel. „Dann verkaufe ich eben alle Drinks für nur zehn Cents.“ Der findige Zapfer weiß: Es gibt viele Möglichkeiten, gesetzliche Einschränkungen zu umgehen. Auch die Überlegung der Familienministerin Ursula von der Leyen, keinen Alkohol an unter 18-Jährige auszuschenken, scheitert an der Realität. Eine effektive Alterskontrolle gibt es schon lange nicht mehr. Die Polizei hat in Partynächten Dringlicheres zu tun, als in Diskos Ausweise zu kontrollieren. Nur eine Maßnahme würde der Jugend wohl helfen: Alkohol über die Steuer vielfach zu verteuern. Das täte allen weh. Das täte allen gut. Doch das wagt die Politik nicht. Dafür zechen auch die Erwachsenen zu gerne.


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